Gleiche Chancen für Kinder mit Entwicklungsstörungen:
In diesem Symposium, das in Kooperation mit dem Boston Children's Hospital (Harvard Medical School) stattfand, stand - basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen - die Umsetzung in der allgemeinen Gesundheitsversorgung im Mittelpunkt. Neben Fachimpulsen fand eine abschließende Podiumsdiskussion statt, in der aktuelle Angebote und weitere Entwicklungsperspektiven diskutiert wurden.
Früherkennung: Der Schlüssel zur Entwicklungschance
Kinder mit neuronalen Entwicklungsstörungen können ihr Potenzial nur durch frühzeitige und gezielte Unterstützung voll ausschöpfen. Dr. Carol Weitzman, renommierte Expertin aus den USA, betonte die zentrale Rolle der niedergelassenen Pädiatrie bei der Erstbewertung und Weiterleitung in spezifische Fördersysteme: „Menschen zu befähigen und ihnen die Zeit zu geben, ihr volles Potenzial zu entfalten ist enorm wichtig. Mein Respekt für Ärzt*innen in der Erstversorgung wächst stetig, angesichts der unglaublichen Vielfalt an Aufgaben und Anforderungen, denen sie tagtäglich begegnen. Die nächsten entscheidenden Schritte in den USA liegen klar in der Stärkung der Primärversorgung, um eine umfassende und nachhaltige Betreuung für alle Familien sicherzustellen. Die philosophische Basis ist jedoch viel weiter gefasst, indem wir den Wert jedes Kindes zu schätzen wissen.“
Prof. Dr. William Barbaresi vom Boston Children´s Hospital der Harvard Medical School beleuchtete die Rolle der spezialisierten Entwicklungsmedizin in den USA. Als vorrangig sieht er die Vereinfachung für Familien: „Als ich mit 50 einen Herzinfarkt hatte, war die Situation dramatisch, aber das System hat perfekt funktioniert: 22 Minuten später hatte ich einen Stent, und das Problem war gelöst. Ich musste mich um nichts kümmern – weder um das Krankenhaus noch um Genehmigungen oder organisatorische Details. Familien mit Kindern, die Entwicklungsstörungen haben, stehen hingegen oft alleine da und müssen nicht nur die Eltern, sondern auch die Ärzt*innen ihrer Kinder sein, da sie sich um jede Kleinigkeit selbst kümmern müssen. Wir brauchen ein System, das für diese Familien genauso effizient und unterstützend funktioniert.“
Prof. Dr. Volker Mall, Ärztlicher Direktor des kbo-Kinderzentrum München, stellte die sozialpädiatrische Versorgung in Deutschland vor und formulierte seine Ziele: „Im Netzwerk mit niedergelassenen Praxen sehe ich unsere Rolle darin, den Familien gerecht zu werden und Wartezeiten spürbar zu verkürzen. Mein Ziel ist es, klare Zeitrahmen zu schaffen: maximal drei Monate für die Diagnostik, drei Monate für die Einleitung der Therapie und drei Monate für ein pädagogisches Angebot. Nur so können wir den Kindern und ihren Familien die Unterstützung bieten, die sie dringend benötigen.“
Das SPES-Modell: Oberösterreich als Vorreiter
Ein zentraler Teil des Symposiums waren die Vorträge von Priv.- Doz. Dr. Daniel Holzinger, OA Dr. Johannes Hofer und Prim. MR Univ.-Prof. Dr. Johannes Fellinger von den Barmherzigen Brüdern Linz. Mit dem SPES-Modell wurde dem interessierten Publikum ein richtungsweisendes Screening- und Interventionssystem vorgestellt.
Früherkennung in der Praxis:
Sprachscreenings im Alter von 2 und 3 Jahren helfen, Entwicklungsrisiken frühzeitig zu identifizieren. Eltern- und arztbasierte Bewertungen führen direkt zu evidenzbasierten Fördermaßnahmen. „Der Satz „Zeit ist Hirn" hat mich als Neurologe in der Schlaganfall Intervention geprägt. Dieser Satz trifft genauso auf die frühkindliche Entwicklung bei Menschen mit Entwicklungsstörungen zu. Wenn wir früh erkennen, dass ein Kind nicht hört, können wir sofort entscheidende Maßnahmen setzen. Das geht nicht nur in Richtung Hörhilfen, sondern betrifft auch die Schulung der Eltern. Etwa: Wie gehe ich mit einem Kind um, das genauso wie ein anderes Kind interagieren und die Welt verstehen will. Um Sprachentwicklungsstörungen evidenzbasiert früh zu erkennen, haben Kollege Holzinger und ich das SPES Sprachentwicklung Screening für Zwei- und Dreijährige entwickelt, das in Kinder- und allgemein ärztlichen Praxen gut umsetzbar ist. Sprache verstehen wir als Schlüssel zur Welt und zur Beziehung zu anderen Menschen.“, betont Primar Fellinger die Bedeutung der Früherkennung. Aktuell wird mit Unterstützung der Raiffeisen Landesbank Oberösterreich in den beiden Modellbezirken Perg und Eferding in einem Forschungsprojekt die Ausrollung vom Screening über die rasche Diagnose zur gezielten Intervention im Hinblick auf Durchführbarkeit analysiert. Mittelfristiges Ziel ist es, die Wartezeiten in ganz Oberösterreich auf drei Monate zu verkürzen.
Effizient und praxisnah
Das Modell integriert sowohl papier- als auch tabletbasierte Verfahren und kann unkompliziert in Eltern-Kind-Pass-Untersuchungen eingebunden werden. „Die Früherkennung bei der kleinen Anja hat uns etwa gezeigt, wie entscheidend ein frühzeitiges Eingreifen ist. Durch das SPES-2 Screening konnte die Kinderärztin Anjas stark eingeschränktes Sprachverständnis früh identifizieren und zur weiteren Abklärung an unsere Abteilung überweisen. In der mulitprofessionellen Diagnostik wurde eine Autismusspektrumstörung diagnostiziert. Die Familie erhält nun eine spezifische Intervention in Form eines PACT-Elterntrainings. Schon jetzt zeigen sich deutliche Fortschritte: Anja zeigt mehr soziale Initiativen, hat größere Freude am gemeinsamen Spiel und ihr herausforderndes Verhalten hat spürbar abgenommen. Gleichzeitig fühlen sich die Eltern sicherer im Umgang mit ihren Bedürfnissen. Das ist ein großer Schritt für Anjas Entwicklung und das Familienleben insgesamt.", so Dr. Holzinger. PACT (Pre-school Autism Communication Trial) ist ein evidenzbasiertes Elterntraining, das darauf abzielt, die soziale Kommunikation und Interaktion von Kindern mit Autismus-Spektrum Störungen durch gezielte Anleitung der Eltern zu fördern.
Abgestufte Interventionen: Präzision statt Pauschalmaßnahmen
„Unser mehrstufiges Modell ermöglicht es, Entwicklungsstörungen frühzeitig zu erkennen und mit individuell abgestimmten Maßnahmen je Diagnose zu behandeln. Damit schaffen wir eine Basis, um Kinder bestmöglich in ihrer Entwicklung zu unterstützen und die Versorgung familienfreundlich zu gestalten. Pädiatrie, Psychologie, soziale Arbeit und Linguistik arbeiten dabei Hand in Hand, um maßgeschneiderte Lösungen zu schaffen.“, betont Dr. Hofer.
Vernetzung als Erfolgsgarant
Die abschließende Podiumsdiskussion zeigte, wie internationale Expertise und lokale Initiativen voneinander lernen können. Ein Beispiel hierfür ist das „Entwicklungsneurosozialpädiatrische Netzwerk Oberösterreich". Es vernetzt Diagnose- und Förderangebote, um Familien rasch und umfassend zu unterstützen.
Wie wichtig ein passendes Angebot für Eltern ist, fasste Andrea Affenzeller, Mitarbeiterin der Barmherzigen Brüder Linz und selbst Mutter eines Sohnes mit einer Störung aus dem autistischen Spektrum, zusammen: „Als Eltern-Peer arbeite ich seit neun Jahren am Institut daran, Eltern möglichst niederschwellig zu unterstützen – sei es durch Austauschrunden, Informationen zu Fördermaßnahmen oder Hilfen wie die Suche nach freien Kindergartenplätzen. Rasche Intervention und sichere Begleitung ist für die Eltern wichtig. Unsere Spielgruppen und Vernetzungsmöglichkeiten sind besonders wertvoll für Eltern, die sich oft aus Scham zurückziehen. Durch diesen Austausch können wir gemeinsam jene Schritte gehen, die ihren Kindern helfen, sich gut weiterzuentwickeln.“
Unterstützung fand sie im Sprecher der Kinderärzte Oberösterreich, Dr. Clemens Gumpendorfer: „Als Kinderärzt*innen sind wir die ersten Ansprechpartner*innen für Familien, und das Vertrauen, das Eltern in uns setzen, ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit. Mein Wunsch und Ziel ist es, Einheiten zu schaffen, in denen 2–3 Ärzt*innen mit Gesundheitsberufen wie Ergotherapeut*innen und Psycholog*innen zusammenarbeiten. So wird die Diagnostik bei den niedergelassenen Kinderärzt*innen deutlich einfacher und effizienter.“
Für die ÖGK sprach der leitende Chefarzt Dr. Andreas Krauter: „Die Zukunft liegt klar in Gemeinschaftspraxen – die Zeit der Einzelkämpfer ist vorbei. Gesundheitskompetenz bedeutet aber auch, über Geld zu sprechen: Wohin fließen die Mittel, und wie können sie am besten genutzt werden? Unser Ziel muss es sein, Familien Sicherheit zu geben, nicht nur im Hier und Jetzt, sondern auch für die Zukunft ihrer Kinder – insbesondere für den Moment, wenn sie selbst als Eltern nicht mehr da sein können. Dabei geht es letztlich immer um eines: die Teilhabe der Kinder und ihrer Familien am Leben.“
Dem Direktor der Abteilung Gesundheit des Landes OÖ, Mag. Jakob Hochgerner, war wichtig zu betonen: „Die Eltern-Kind-Pass-Untersuchung ist ein zentrales Instrument, um den Zugang der Familien zu Gesundheitsleistungen zu sichern. Als Gesundheitssystem dürfen wir nicht mit ‚Dividenden‘ argumentieren – unser Produkt ist Gesundheit und ein gutes Leben. Es geht darum, den größtmöglichen Nutzen für die Volksgesundheit zu schaffen. Der Föderalismus bietet dabei die Chance, in kleineren Strukturen und Pilotprojekten die Grundlagen zu schaffen, die später auf ganz Österreich übertragen werden können. Auch wenn die wirtschaftliche Lage angespannt ist, glaube ich dennoch, dass wir einen entscheidenden Schritt in der Versorgung von Kindern mit Entwicklungsstörungen weiterkommen werden.“
Insgesamt bot das Symposium einen beeindruckenden Einblick in die Zukunft der Gesundheitsversorgung von Kindern mit Entwicklungsstörungen – mit einem klaren Ziel: Jede Chance zu nutzen, um Potenziale zu entfalten.
v.l.n.r: Johannes Fellinger, Vorstand des Instituts für Sinnes- und Sprachneurologie / Andreas Krauter, Direktion Österreichische Gesundheitskasse / Jakob Hochgerner, Direktor Abteilung Gesundheit Land OÖ / Daniel Holzinger, Institut für Sinnes- und Sprachneurologie / Clemens Gumpenberger, Vertreter niedergelassene Pädiatrie / Johannes Hofer, Institut für Sinnes- und Sprachneurologie / Carol Weitzman, Boston Children's Hospital/Harvard Medical School / William Barbaresi, Boston Children's Hospital/Harvard Medical School / Volker Mall, kbo-Kinderzentrum München / Andrea Affenzeller, Elternpeer Autismus
Konventhospital Barmherzige Brüder Linz
Das Konventhospital Barmherzige Brüder Linz ist Teil einer der größten ordensgeführten Gesundheits- und Sozialeinrichtung der Welt. Die Standorte in Oberösterreich, darunter das Krankenhaus Barmherzige Brüder Linz, das Seniorenheim Franziskusschwestern, die Krankenhaus-Apotheke, die Augenoptik Barmherzige Brüder sowie die Einrichtungen der „Lebenswelt“ sind eingebunden in innovative, kosteneffiziente Strukturen.
Das Konventhospital betreut jährlich über 22.000 Patient*innen stationär und mehr als 87.000 ambulant.
Regional hat sich das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder auf Spitzenmedizin in ausgewählten Schwerpunktbereichen spezialisiert:
- Augenheilkunde
- Geburtshilfe
- Gefäßchirurgie
- Innere Medizin
- Neurologie
- Sinnes- und Sprachneurologie
Über den Orden der Barmherzigen Brüder:
In der Österreichischen Ordensprovinz mit Standorten in Österreich, Tschechien, Ungarn und der Slowakei betreiben die Barmherzigen Brüder gemeinsam mit fast 8.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Voll- und Teilzeitbeschäftigung an 36 Standorten zwölf Krankenhäuser sowie zahlreiche weitere Sozial- und Gesundheitseinrichtungen wie Alten- und Pflegeheime, Lebenswelten für Menschen mit Behinderungen, eine Therapiestation für Drogenkranke, Hospize und Kureinrichtungen. Weltweit sind die Barmherzigen Brüder in 53 Staaten mit über 400 Einrichtungen vertreten.
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Frau Mag. Claudia Kolb
0699/122 00 869